14.Juni 2021
Anfang Mai 2021 hat die kantonale Baudirektion die Bewilligung des Regierungsstatthalteramts Bern-Mittelland, ein achtstöckiges Scheibenhaus an der Fellerstrasse 30 in der Siedlung Tscharnergut durch einen Neubau zu ersetzen, wieder rückgängig gemacht. Sie folgte damit Beschwerden, welche vom Berner Heimatschutz und der Stadt Bern eingereicht wurden. Die FAMBAU Genossenschaft als Besitzerin und Betreiberin der Immobilie hat gegen das Abbruch-Verbot der Baudirektion beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern am 2. Juni 2021 Beschwerde eingereicht.
Die Siedlung Tscharnergut ist ein Pionierprojekt des Schweizer Siedlungs- und Städtebaus. Zwischen 1958-1966 realisiert, bot die Überbauung neuen Wohnraum für rund 5000 Menschen: 1186 Wohnungen, acht Hochhäuser und acht Scheibenhäuser – darunter jenes an der Fellerstrasse 30 –, Mehrfamilien- und Einfamilienhäuser sowie Kindergarten, Kinderkrippe und ein Freizeitzentrum, wie es die meisten Mieterinnen und Mieter der ersten Generation zuvor nicht gekannt hatten, mit Werkstätten, Veranstaltungsräumen und einer Bibliothek.
Für den Berner Gemeinderat war der Bau der Siedlung eine Massnahme gegen drohende Wohnungsnot insbesondere im tiefen Mietzinssegment. Architekten und Bauherrschaft hatten sich an Kostenvorgaben zu halten, welche von den Mietzinsen ausgingen, die für die neuen Wohnungen vorgesehen waren. Die Miete einer 4-Zimmerwohnung lag anfänglich zwischen 173 und 193 Franken.
Für welche Mieterschaft der neu geschaffene Wohnraum gedacht war, hat bereits der Baurechtsvertrag von 1958 zwischen der Einwohnergemeinde Bern und der Familien-Baugenossenschaft Bern, der heutigen FAMBAU, festgeschrieben: Bei der Vermietung seien «vorab Bewerber mit Kindern zu berücksichtigen, deren Einkommen in einem angemessenen Verhältnis zu den Mietzinsen steht.» Die Wohnungen, präzisierte der Vertrag weiter, dürften grundsätzlich nicht an alleinstehende Personen oder an kinderlose Paare vermietet werden.
Kostendisziplin und Visionen
Die auf tiefe 90 Franken pro Kubikmeter festgelegten Baukosten bestimmten die Bauweise und die Wahl der Baumaterialien. Ein Resultat daraus waren die Laubengänge der Scheibenhäuser, sie ermöglichten Einsparungen bei der Anzahl der Lifttürme. Die Installation der Liftzugänge in den Zwischengeschossen war ebenso kostenbedingt, auf diese Weise konnten zugleich zwei Stockwerke bedient werden. Heute gehören gerade die Laubengänge und die Lifttürme zu den Problemzonen der Wohnsiedlung, weil sie nicht Rollstuhlgängig sind und die Liftzugänge für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen beschwerlich oder unüberwindbar.
Neben einem breiten, durchmischten Angebot an günstigem Wohnraum bot das Tscharnergut einen für damalige Verhältnisse visionär gestalteten Aussenraum. Obwohl zuerst eine Strasse durch die Siedlung geplant war, kam es schliesslich zu einer sogenannten Ringerschliessung mit autofreiem Grünraum im Innern. Dies ganz im Gegensatz zum damaligen Zeitgeist: Es herrschte Autoeuphorie, in der Schweiz wurden die ersten Autobahnen gebaut.
Die Wahrung dieses Aussenraums ist richtungsweisend bis heute, bei den bereits erfolgten Sanierungen ebenso wie in den Plänen für den Neubau. Der Ersatzneubau an der Fellerstrasse 30 würde zwar ein leicht grösseres Volumen als der bestehende Bau aufweisen, das war jedoch bei dem 2016 in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege der Stadt Bern sanierten Scheibenhaus an der Waldmannstrasse 25 nicht anders – an der Westfront gab es eine Verbreiterung um drei Meter. Der Aussenraum hingegen, die Umgebung des Neubaus, bliebe unverändert.
Allen Würdigungen und Klassifizierungen der Siedlung Tscharnergut ist eines gleich: der offene Blickwinkel. Die architektonische, städtebauliche und soziale Qualität der Siedlung, darin sind sich alle einig, vermittelt sich vor allem in der Gesamtanlage und ihrer Durchmischung, in der Gruppe, im Ensemble. Diese Qualität wird im aktuellen Fall der Fellerstrasse 30 in keiner Weise angetastet, das Zwistobjekt ist eine Einzelbaute.
Lebensort und Zeitzeugnis
Die Tscharnergut-Architekten – das eigentliche Siegerteam, Ulyss Strasser und Hansruedi Lienhard, und die sie begleitende Architektengemeinschaft mit Hans und Gret Reinhard, Eduard Helfer, Werner Kormann und Ernst Indermühle – haben nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern für den schnellen, möglichst zweckdienlichen Nutzen: strikt funktionell, preisgünstig. Dass sie damit Architekturgeschichte schreiben, konnten sie nicht wissen, davon war damals eher im Zusammenhang mit der zur gleichen Zeit entstandenen Halensiedlung des Atelier 5 die Rede.
Worüber sich die Erbauer auch keine Gedanken machen mussten, war, wie ein Baudenkmal von dieser Bedeutung dereinst erhalten werden soll – als genutzter Lebensort und zugleich als geschütztes Zeitzeugnis? Das ist die Frage, um die sich im Tscharnergut seit gut 15 Jahren alles dreht, seit einem ersten Studienauftrag der FAMBAU für die Sanierung des Scheibenhauses an der Waldmannstrasse 25 im Jahr 2006 und einer drei Jahre später abgeschlossenen Rahmenvereinbarung zwischen der Stadt Bern, der FAMBAU und weiteren Beteiligten.
Auf dieser Vereinbarung, von Seiten der Stadt damals von Stadtpräsident Alexander Tschäppät unterschrieben, fusst unter anderem die Einsprache der Stadt gegen den Neubau an der Fellerstrasse. Die FAMBAU, wird unterstellt, halte sich nicht an die Vereinbarung. Der Vorwurf überrascht insofern, als dass in der Vereinbarung steht, Volumen, Baulinien und Baustruktur der Scheibenhäuser seien «auf der Basis eingehender Abklärungen veränderbar, Ersatzneubauten verhandelbar.» Gerade die Bau-, Energie- und Umweltstandards, welche innovativ angewendet werden sollten, könnten «mit Änderungen an den Gebäuden einhergehen.» Auch bezüglich Mieterschaft ist die Vereinbarung klar formuliert: Ein attraktives Angebot an preiswerten Wohnungen für Familien schaffen, und, noch umfassender, die «Identität als Wohngebiet für Familien aktiv schärfen.»
Baudenkmal gegen Sicherheit
Der Beschwerde der Stadt gegen den Entscheid des Regierungsstatthalters vom 9. Juli 2020, dem Gesuch der FAMBAU für einen Neubau des 1959 erstellten Gebäudes nachzukommen, fehlt die Substanz. Die Beschwerde – diesmal von Stadtpräsident Alec von Graffenried initiiert und vom Gemeinderat verabschiedet – gewichtet einzig die denkmalpflegerische Erhaltung. Die Nachteile in der Vermittelbarkeit der Wohnungen werden in Kauf genommen, die angestrebte Verbesserung im Rahmen einer leicht modifizierten Erneuerung zur Erfüllung der heutigen Wohnansprüche, der Sicherheitsstandards insbesondere bei Brandschutz und Erdbebensicherheit sowie der sozialen und ökologischen Anforderungen einfach ignoriert. Die Beschwerde der Stadt setzt auf Bewahren, ihr fehlt die wohnbaupolitische und die sozialpolitische Begründung und Weitsicht.
Auch der Berner Heimatschutz spielt in seiner Beschwerde dramatisch das «hochwertige Baudenkmal» gegen die «wirtschaftlichen Beweggründe für einen Abbruch» aus und warnt vor dem «gefährlichen Präjudiz für die Berner Baukultur», welches ein Neubau schaffen könnte. Werden an der Fellerstrasse in Bümpliz tatsächlich die Weichen für die Zukunft der Wohnstadt Bern gestellt? Oder steht nicht viel mehr einfach die respektvolle bauliche Weiterentwicklung – und damit die Einhaltung der vorgeschriebenen Sicherheit für die Bewohnerinnen und Bewohner – eines ins Alter gekommenen Wohnquartiers an?
Die Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern (BVD) hat sich in ihrem Entscheid vom 3. Mai 2021 fürs Erstere entschieden. Während die baulichen Schwachstellen und die finanziellen Belastungen vom Regierungsstatthalter eingehend geprüft und gewürdigt wurden, geht das BVD einzig auf die Einwände von Denkmalpflege und Heimatschutz ein, ohne diese mit stichhaltigen Fakten zu untermauern. Das BVD schreibt, «dass der Erhalt der Liegenschaft an der Fellerstrasse 30 verhältnismässig und ein Abbruch dieses Gebäudes damit nicht zulässig ist.» Was heisst verhältnismässig? Allein die Minimalvariante einer Sanierung des Gebäudes an der Fellerstrasse 30 würde den von der Baudirektion angenommenen Kostenrahmen deutlich sprengen, und eine ganze Reihe dringend nötiger Arbeiten für Infrastruktur und Sicherheit blieben trotzdem liegen. Der Verlust wäre wirtschaftlich nicht tragbar, er müsste durch erhöhte Mietzinseinnahmen aus anderen Liegenschaften kompensiert werden. Eine derartige Quersubventionierung widerspricht der Gemeinnützigkeit und ist darum nicht haltbar.
Nicht nachvollziehbar ist für die FAMBAU als Eigentümerin des Gebäudes an der Fellerstrasse, wie abschätzig die Baudirektion die öffentlichen Interessen an einem Ersatzneubau gewichtet und bezüglich Hindernisfreiheit, Brandschutz, Erdbebensicherheit, Schallschutz, Energiemassnahmen und dem Schutz von Leib und Leben der Bewohnerinnen und Bewohner entscheidet. Die alten Defizite wären nach einer Sanierung nicht beseitigt und auch die angestrebte Verbesserung des Wohnkomforts nicht zu erreichen.
Stattdessen teilt das BVD die Sicht der Beschwerdeführer hinsichtlich der Frage, ob das Scheibenhaus an der Fellerstrasse bereits für sich allein ein Baudenkmal und darum schützenswert sei. Der Schutzwert des einen, der Einzelbaute, sei nicht unabhängig vom andern, dem Ensemble zu beurteilen, deshalb beziehe sich der hohe denkmalpflegerische Wert nicht nur auf das Gesamtbauwerk Tscharnergut, sondern ebenso auf Einzelbauten. Damit wird der Denkmalschutz faktisch über die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner gestellt. Zudem schliesst der auch von Heimatschutz und Denkmalpflege vehement vertretene Ansatz Veränderung aus; er proklamiert den Stillstand.
Erhalten und Erneuern
Die 1945 gegründete FAMBAU Genossenschaft mit unterdessen rund 2800 Einheiten in ihrem Portofolio allein in Bümpliz-Bethlehem baut auf lange Erfahrung im gemeinnützigen Wohnungsbau. An der baulichen Entwicklung im Stadtteil VI, der weitreichendsten städtebaulichen Expansion und Veränderung von Bern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert, war sie von Anfang an massgeblich beteiligt.
Als eine der ersten Eigentümerinnen von grossen Liegenschaften und Hochhäusern in Bümpliz-Bethlehem hat sich die FAMBAU der Sanierung ihres Wohnungsbestands seit nunmehr 15 Jahren intensiv angenommen. Die Kosten für Gesamtsanierungen haben sich in den letzten zehn Jahren allerdings beinahe verdoppelt. Damit stellt sich vermehrt die Frage, wie weit sie überhaupt noch lohnend sind – und auch, ob Wohnraum noch saniert werden soll, wenn er heutigen Anforderungen nicht mehr genügt oder, wie bei der FAMBAU, genossenschaftliche Grundsätze zum preisgünstigen Wohnraum insbesondere für Familien nicht mehr erfüllt werden können. In der sanierten Liegenschaft an der Waldmannstrasse 25 sind Familien in Unterzahl, 1-2 Personenhaushalte in der Mehrheit.
Die Balance zu finden zwischen Erhalten und Erneuern ist ein nie endender, höchst diffiziler Prozess, dem sich die FAMBAU stellt, auch und gerade in der Zukunftsplanung der Siedlung Tscharnergut. Das Scheibenhaus an der Waldmannstrasse 25 hat sie in Kooperation mit der Denkmalpflege aufwändig saniert. Beim Scheibenhaus an der Fellerstrasse 30 hat sie sich, gestützt auf Berechnungen und Analysen bezüglich Sicherheit der Bewohnenden, Wirtschaftlichkeit und Bausubstanz für einen Neubau entschieden. Wenn die FAMBAU an der Fellerstrasse einen Wohnblock neu baut, der ein wenig grösser ist als der alte und etwas geräumiger, sich sonst aber fast 1:1 am heutigen Gebäude orientiert, zerstört sie kein geschütztes Ortsbild, sie bringt neue Lebensqualität ins Quartier.
Auskunft erteilt:
Walter Straub, Geschäftsführer FAMBAU Genossenschaft, Tel. 031 997 11 01 / straub@fambau.ch